Homonationalismus und Pinkwashing: Negative Auswirkungen auf LGBT-Debatten

Dieser Text ist ein Manuskript des Vortrags den ich unter dem Titel „Homonationalismus – kritische Analyse oder Homophobie für den gehobenen Bedarf?“ an der TU Dresden am 23. Februar 2023 gehalten habe.

Einleitung

„Homonationalismus“ hat als Begriff seit seiner Premiere im Jahr 2007 Eingang gefunden in die Felder der Geistes- und Sozialwissenschaften, in denen man sich mit Queer Theory, Gender Studies, LGBTIQ, Intersektionalität und Ähnlichem beschäftigt. Auch in Deutschland wird er verwendet.

Dieser Begriff, der auf die US-amerikanische Queertheoretikerin Jasbir Puar zurückgeht, transportiert die These, dass westliche Nationalstaaten LGBT-Rechte ausschließlich zu rassistischen und nationalistischen Zwecken instrumentalisieren.  Im Vortrag will ich darlegen, warum ich den Begriff weniger für eine kritische Analyse, als vielmehr für Schwulenfeindlichkeit für den gehobenen Bedarf halte. Es wird dabei aber nicht nur eine falsche Dichotomie zwischen LGBT-Rechten und Rassismus aufgemacht, sondern auch Antisemitismus, ebenfalls für den gehobenen Bedarf, produziert.

Der Begriff Homonationalismus

2007 veröffentlichte die US-amerikanische Queertheoretikerin Jasbir Puar ihr Buch „Terrorist Assemblages. Homonationalism in Queer Times“.  Darin nimmt sie den ersten IDAHO – International Day Against Homophobia zum Ausgangspunkt ihrer Kritik. Dieser wurde  am 17. Mai 2005 ins Leben gerufen und ging maßgeblich auf eine Kampagne von ILGA zurück.

Puar kritisiert, dass zum IDAHO 2006 das Schicksal zweier schwuler Jugendlicher im Mittelpunkt stand, die am 19. Juni 2005 im Iran wegen ihrer Homosexualität hingerichtet wurden. Diese Hinrichtung zog international viele Protestnoten nach sich, auch von der damaligen US-Regierung unter George W. Bush, die den Iran zur „Achse des Bösen“ zählte. Puar behauptete nun, dass diese Aufmerksamkeit in erster Linie rassistisch begründet sei, sowie für die USA die Akzeptanz gegenüber einen Krieg mit Iran erhöhen solle:

“The frenzied fixation on the homophobia of Iran’s state regime is thus perpetuated, in many instances, by the very same factions who are responsible for the global proliferation of protests against a future invasion of Iran. At this historical moment, this bizarre conjuncture functions as nothing less than the racism of the global gay left and the wholesale acceptance of the Islamophobic rhetoric that fuels the war on terror and the political forces pushing for an Iranian invasion, if not a tacit acceptance of the pending occupation itself.” (S. xi)

Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times is an invitation to deeper exploration of these connections among sexuality, race, gender, nation, class, and ethnicity in relation to the tactics, strategies, and logistics of war machines. This project critiques the fostering, managing, and valorizing of life and all that sustains it, describing the mechanisms by which queerness as a process of racialization informs the very distinctions between life and death, wealth and poverty, health and illness, fertility and morbidity, security and insecurity, living and dying. Race, ethnicity, nation, gender, class, and sexuality disaggregate gay, homosexual, and queer national subjects who align themselves with U.S. imperial interests from forms of illegitimate queerness that name and ultimately propel populations into extinction.” (s. xi-xii)

“The emergence and sanctioning of queer subjecthood is a historical shift condoned only through a parallel process of demarcation from populations targeted for segregation, disposal, or death, a reintensification of racialization through queerness. The cultivation of these homosexual subjects folded into life, enabled through ‘‘market virility’’ and ‘‘regenerative reproductivity,’’ is racially demarcated and paralleled by a rise in the targeting of queerly raced bodies for dying.” (S. xii)

“The result of the successes of queer incorporation into the domains of consumer markets and social recognition in the post–civil rights, late twentieth century, these various entries by queers into the biopolitical optimization of life mark a shift, as homosexual bodies have been historically understood as endlessly cathected to death. In other words, there is a transition under way in how queer subjects are relating to nation-states, particularly the United States, from being figures of death (i.e., the aids epidemic) to becoming tied to ideas of life and productivity (i.e., gay marriage and families).” (S. xii)

Ihre Grundthese ist die eines bedeutsamen Wandels, wie Homosexuelle gesellschaftlich wahrgenommen werden: Die erfolgreiche gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration, erreicht durch Bürgerrechtsbewegungen, habe dazu geführt, dass homosexuelle Körper nicht mehr als todbringend markiert werden, sondern auch Teil der produktiven Gesellschaft geworden sind. Puar zufolge hätten vor allem die Terroranschläge vom 11. September 2001 dazu beigetragen. Der „War on Terror“ hätte auch bei Lesben und Schwulen zu einem Bekenntnis zur Nation geführt. Empfehlenswert dazu sind die Ausführungen von Nina Rabuza in „Beißreflexe“, auf die ich Bezug nehme.

 Stattdessen seien die neuen todbringenden und damit queeren Subjekte islamistische Selbstmordattentäter. Zu diesem Schluss kommt Puar nach einer Analyse der Repräsentation von Muslimen in US-amerikanischen Medien, in denen Muslime als todbringend, krank, sexuell pervers dargestellt würden. Puar versteht „Queer“ nicht als  Selbstbezeichnung, die sich gegen Identitätspolitik wendet, sondern als Bezeichnung für als sexuell pervers geltende gesellschaftlich Ausgeschlossene. Den islamistischen Selbstmordattentäter versteht Puar mit Rückgriff auf Chakravorty Gayatri Spivak und Achille Mbembe als „nicht festgelegte Struktur, die identitätslogische Zuschreibungen überwinden soll“. Der Selbstmordattentäter wird in dieser Lesart zu einem Widerstandskämpfer, der Kategorisierungen zerstört.

Als stramme Antiimperialistin darf natürlich ihr Hinweis nicht fehlen, dass durch den US-amerikanischen Imperialismus viel mehr Menschen sterben würden, als durch Selbstmordattentate. Rabuza kritisiert dies als „zynische Verklärung von Gewalt und Terrorismus“. Der Literaturwissenschaftler Benedikt Wolf kritisiert an Puars Argumentation, dass Homosexuelle nie eine tatsächliche Bedrohung für das Leben von US-Bürger_innen dargestellt haben, während der islamistische Terrorismus sich spätestens mit 9/11 als eine tatsächliche Bedrohung erwiesen hat. Die Angst vor den Perversen ist Projektion, während sich in der Angst vor dem islamistischen Terrorismus Projektion und objektiv gerechtfertigte Angst verbinden, so Wolf.

 Für Puar gibt es nur böse imperialistische Unterdrücker, vor allem die USA und Israel oder deren Opfer – vor allem nicht-westliche Staaten. Kritik an gewaltvollen, nicht demokratischen Regime wird von Puar als rassistisch und Unterstützung von Imperialismus abgelehnt. Deshalb wird man von ihr eher keine Kritik am iranischen Mullah-Regime lesen, was nach wie vor Homosexuelle auch mit dem Tod bestraft.

Homonormativität

Puar lehnt ihren Begriff des Homonationalismus an Lisa Duggans „Hormonormativität“ an, der 2002 in die Welt gekommen ist. Mit Homonormativität kritisiert Duggan, dass Homosexuelle Teil einer neoliberalen Sexualpolitik geworden seien, die heteronormative Strukturen stütze und eine Form der Homosexualität hervorgebracht habe, die privatisiert und depolitisiert und Teil der gesellschaftlichen Mitte geworden sei. Im Grunde macht Duggan Schwulen und Lesben erreichte Fortschritte im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung implizit zum Vorwurf. Die Polittunte Patsy l’Amour laLove kritisiert Duggans Begriff als schlecht, da sie auslässt, dass die von ihr konstruierte Homonormativität eigentlich auf die Wirkmächtigkeit der Heteronormativität zurückzuführen ist.

Während der Begriff „Heteronormativität“ noch Gesellschaftskritik übt, weil er sich nicht gegen Heterosexualität an sich, sondern als gesellschaftliche Norm richtet, richtet sich Homonormativität gegen als vermeintlich zu normal lebende Schwule und Lesben. Der Vorwurf sei, dass diese sich von gesellschaftlichen Kämpfen losgesagt hätten. Meine persönliche Kritik ist, dass Duggan Lesben und Schwule darauf reduziert, homosexuell zu sein und mit normativen Erwartungen versieht, dauerrevolutionär sein zu müssen. Menschen bestehen jedoch aus viel mehr Eigenschaften aus denen sie individuell entwickeln, wie sie leben möchten und können.

Menschenrechtsbewegungen aus früheren Dekaden versetzten homosexuelle Individuen in die Lage, mehr Wahlmöglichkeiten zu haben, das Leben zu gestalten. Natürlich passieren Lebensentscheidungen immer vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen.

Dazu  Benedikt Wolf in seinem Essay „Queer. And now? Für eine kritische Geschichtsschreibung“:

„Die liberale Beobachtung, dass Verbesserungen der Lage von LSBTIs vor allem in demokratisch verfassten Marktwirtschaften zu verzeichnen sind, ist so richtig wie bedeutsam. Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus, der Entstehung und Entfaltung bürgerlicher Gesellschaften einschließlich der in ihnen garantierten formalen Freiheitsrechte und der Besserung der Lage der LSBTIs ist so fundamental wie real. Es ist die Verwertung von immer weiteren Bereichen der Gesellschaft als Arbeitskraft, die zu Mobilität, Urbanität und zur Lockerung familialer Zwangsstrukturen führte. Es ist die Warenförmigkeit der gesellschaftlichen Beziehungen, die als Voraussetzung der faktischen Verbesserung der Lage von LSBTIs in bürgerlichen Demokratien gelten muss.“

Wolf will diese Feststellung aber ausdrücklich nicht als Loblied auf den Kapitalismus verstanden wissen:

„Der Kapitalismus stellt bestimmte zentrale Voraussetzungen für die bürgerliche Verbesserung der Homosexuellen, Intersexuellen und Transmenschen zur Verfügung, doch er auferlegt allen Subjekten – und zwar durch ebendie Warenförmigkeit, die die Voraussetzung der Verbesserung ist – im gleichen Zug ein enormes Maß an Unterwerfung. Die rechtlichen Verbesserungen für Minderheiten gehen nicht quasi-automatisch aus der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hervor. Sie waren und sind zu erringen.“  

Kritik am Begriff Homonationalismus

Sowohl Duggan als auch Puar konstruieren einen Strohmann insbesondere vom weißen privilegierten Schwulen, der den aus ihrer Sicht wahrhaftig Marginalisierten gegenüber gestellt wird. Theoretisch fasst das Benedikt Wolf als antiemanzipatorische Wende in der Queer Theory. So werden Ressentiments gegen Schwule für den gehobenen Bedarf gestrickt. Homophobie in linken Kreisen ist nichts Neues, man denke nur an Klaus Manns Essay „Die Linke und das Laster“, in dem er den Umgang linksliberaler Medien mit Ernst Röhms Homosexualität kritisierte.

Dabei war Queer einst gerade nicht angetreten, Homophobie in neuen Schläuchen zu servieren. In einem der wegweisenden Texte der deutschen Queer Studies formuliert Andreas Kraß 2003 als ihr Ziel: »Queer Theory und ihre Anwendung in den Queer Studies zielen […] auf die Denaturalisierung normativer Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit, die Entkoppelung der Kategorien des Geschlechts und der Sexualität, die Destabilisierung des Binarismus von Hetero- und Homosexualität sowie die Anerkennung eines sexuellen Pluralismus, der neben schwuler und lesbischer Sexualität auch Bisexualität, Transsexualität und Sadomasochismus einbezieht« (Kraß zitiert nach Wolf 2019).

Es geht den Queer Studies in diesem Sinne also um das Infragestellen einschränkender Normen in Bezug auf Geschlecht und Sexualität, und zwar unter der Voraussetzung einer Parteinahme für die sexuellen und geschlechtlichen Außenseiter. Ebenso wird der Blick auf das Nichtidentische gerichtet. Mit einem solchen normativitätskritischen Impetus sind Queer Theory und Queer Studies in den 1990er Jahren angetreten. Heute jedoch werden von Vertreter_innen wie Puar antiemanzipatorische Inhalte verbreitet, indem gesellschaftspolitische Errungenschaften für LGBTI als etwas Schlechtes dargestellt  und damit auch demokratisch-liberale Gesellschaften und universelle Menschenrechte in Gänze verachtet werden. Stattdessen werden LGBTI-feindliche Regime teils auch noch glorifiziert, aber mindestens von Kritik ausgespart.

Zudem ist mit Philosophin Tove Soiland darauf hinzuweisen, dass der Kapitalismus mit befreiter Sexualität wunderbar leben kann und sich zudem längst auch das im zeitgenössischen Verständnis von queer als widerständig Angepriesene von kapitalistischen Verwertungslogiken aufgesogen wurde. So lässt sich mit Modewörtern wie „ Queer“, „Intersektionalität“ Fördermittel gewinnen, Modelabel und Ähnliches entdecken die (vermeintlich) widerständigen Queers als Konsumentengruppe und bieten Kollektionen an. Für alles und jeden gibt es Pride-Kollektionen, Empowerment-Workshops, etc.

Wie die nicht oder nur unzureichend eingelösten Versprechen der universellen Menschenrechte und der Demokratie stattdessen gesehen werden könnten:

 Der marxistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer sprach 1975 in seiner Studie »Außenseiter« vom Widerspruch zwischen formalen Freiheitsgarantien und materiellen Bedingungen und plädierte für einen Begriff von Aufklärung, der ihre »Monstren«, also die existenziellen Außenseiter Frauen, Juden/Jüdinnen und Homosexuelle, zum Prüfstein macht: »Dialektik der Aufklärung allenthalben: im Kontrast zwischen Freiheit und Freiheiten, materialer und formaler Egalität, beim Versuch, die hochherzigen Emotionen der ›Brüderlichkeit‹ politisch und rechtlich zu konkretisieren. […] / Allein solche Erfahrungen widerlegen nicht die bürgerliche Aufklärung, sondern wirken als Bestätigung: man kann Unvollkommenes verbessern, verweigerte Lösungen erzwingen, der Bourgeoisie ihre Postulate entwinden, um sie durch neue gesellschaftliche Träger, mit absoluter Geltung und im Kampf gegen die einstigen bürgerlichen Protagonisten, zu verwirklichen.

Zur Rezeption des Begriffs Homonationalismus

Aus dem LSBTIQ-Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung:

Homonationalismus

Der Begriff Homonationalismus wurde von Jasbir Puar geprägt. Zur Auflösung der Fußnote[1] Er verweist auf die Vereinnahmung von LSBTIQ-Emanzipationsforderungen für nationalistische Ziele.

Prominente Beispiele für Homonationalismus sind die Legitimation von restriktiven Einwanderungspolitiken oder Kriegen, die im Namen des Schutzes von „sexuellen Minderheiten“ geführt werden. Beispiele für „wer (zur Nation, zur Zivilisation etc.) dazu gehört und wer nicht“ sind auch Formen des anti-muslimischen Rassismus und Ausgrenzung queerer Migrant*innen in LSBTIQ-Communities.

Leider ist diese Definition  mehr Wunsch als Wirklichkeit, wie ich zum Ende hin an ein paar Fallbeispiele zeigen werde.

Zunächst möchte ich aber auf ein Beispiel für die Rezeption des Begriffs in Deutschland eingehen. Zu erwähnen ist hier das Buch „Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven“ des  Sexualwissenschaftlers Heinz-Jürgen Voß und des Soziologen Zülfukar Çetin.  Sofort in der Einleitung »Homosexualität« und »die Anderen« . Zu Fragen von Sichtbarkeit und Anerkennung, Nationalismus und Rassismus im westlichen Konzept der »Homosexualität“ wird deutlich, welche Stoßrichtung das Buch hat:

„Immer mehr kristallisiert sich der Schwule (im Original kursiv hervorgehoben) als eine Diskursfigur heraus, mit der westliche Hegemonie weltweit durchgesetzt wird. Dieses Agieren wird unter dem Stichwort »Homonationalismus« verhandelt.“

Voß und Çetin behaupten „der Homosexuelle“ sei schon immer in hegemoniale Herrschaftsverhältnisse eingebunden gewesen: „Doch auch die »emanzipatorische Richtung«, und vorneweg ihr bedeutendster Protagonist Magnus Hirschfeld, entwickelte »den Homosexuellen« in direkter Abgrenzung gegen die Kolonisierten und weitere als »anders« zugeschriebene Männer. Es wird deutlich, dass Hirschfeld nur den deutschen Homosexuellen meint, wenn man auf die Abgrenzungen sieht, die er trifft.“ (S. 11)

Als Belege dienen ihnen Auszüge aus Hirschfelds „Die Homosexualität des Mannes und des Weibes“ von 1914, die sie wie folgt interpretieren:

„Hirschfeld geht es hier um eine »echte« Homosexualität, eine, die sich nicht nur im mann-männlichen sexuellen Verkehr zeige, sondern die offenbar auf etwas Inneres und Untrügliches verweist. Gleichzeitig sieht er sie gerade bei den Reisenden – und grenzt sie gegen die Sexualität der Einheimischen ab, die er als »orientalisch« markiert und mit bestimmten Anforderungen belegt. So lasse sich »der Orientale« nicht penetrieren, nehme aber gegenüber den herangereisten homosexuellen Männern durchaus und gern den »aktiven«, penetrierenden sexuellen Part ein. Das Motiv, das Edward Said als zentrale kolonialisierende Zuschreibung des Westens an »den Orient« ansieht, dass es einen besonderen Hang der Männer gebe, untereinander sexuell zu verkehren (Said, 2003 [1978]), wird von Hirschfeld in aller Deutlichkeit beschrieben – und auch für Italien und insbesondere Süditalien angeführt“

Diese Interpretation halte ich für nicht wohlwollend oder fair. Hirschfelds Darstellungen können auch deskriptiv gesehen werden, indem unterschiedliche Settings und Motive für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen dargestellt werden. Ein nicht fairer Umgang mit Schwulen und Protagonisten schwuler Emanzipationsbewegungen ist in diesem Buch jedoch der Grundtenor, wie Patsy l’Amour laLove in ihrer Rezension von 2016 zeigt:

Homosexualität bestehe nur als »Abgrenzung gegen die geschlechtlich-sexuellen Handlungen ›der Anderen‹«, es gebe eine unauflösliche »Verschränkung von ›Homosexualität‹ und Rassismus/Kolonialismus«. Das Problem mit der Homosexualität sei sogar noch umfassenderer, da sich »die Interessenlagen hinter dem Begriff ›homosexuell‹ durch rassistische, sexistische und klassistische Diskriminierung sehr breit auffächern« ließen. Sich als schwul zu bezeichnen, ist eine »koloniale und rassistische Zuschreibungspraxis«.

Çetin und Voß resümieren: »In unserem Buch wurde deutlich, wie weiße Schwule in den nationalen und ­rassistischen Aushandlungen mitmischen.« Der zentrale politische Schluss daraus lautet, sich der schwulen Identität endlich zu entledigen, sich der Homosexualität als Zuschreibung zu »verweigern«, sie zu »verlernen«. Das Urteil von Patsy l’Amour laLove gilt immer noch: „Das ganze Buch durchzieht eine herablassende Missgunst gegenüber Schwulen.“ Schwule werden zu einer unterdrückenden Gruppe erklärt, die ihre Privilegien checken müssten.

L’Amour laLove weiter:

„Das Andere ist keine subalterne Identität, die auf revolutionäres Potential hin geprüft werden muss, wie es in dem Buch des Öfteren zu lesen ist. Das Andere ist ohnehin vorhanden, Ausgangspunkt der Reflexion über sich selbst und die Außenwelt. Die wichtige Frage ist, ob man zu reflektieren bereit ist, wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schreibt: »Was wirkliche Toleranz von Scheintoleranz unterscheidet, ist ihr Wissen um das noch Differente und das Akzeptieren des Anderen als Anderen«.“

Ein anderes Beispiel ist das Buch „Sexueller Exzeptionalismus« aus dem Jahre 2019 von der Genderforscherin Gabriele Dietze. Vukadinovic besprach dieses Buch zusammen mit Ali Tonguç Ertuğrul und Sabri Deniz Martin: Zentrales Argument ist hier, dass westliche Freiheiten, insbesondere sexuelle zur »Migrationsabwehr« benutzt würden – vorrangig vom Viergespann Feminismus, Neue Rechte, Identitäre und Rechtspopulismus, das die »Annahme einer generellen sexuellen Rückständigkeit und Gefährlichkeit« von Migrantinnen und Migranten teile, wie der Klappentext verlautbart.

Unter »Migranten« versteht Dietze hier ein muslimisches, in traditionellen, heterosexuellen Familienzusammenhängen lebendes Kollektiv. Dessen vermeintlichen Ausschluss durch Staat, Medien und Gesellschaft versucht sie anhand begrifflicher Eigenkreationen wie »Ethnosexismus« und »sexueller Exzeptionalismus« nachzuweisen. Auch Dietze stützt sich auf  Jasbir Puars »Homonationalismus«,  der, wie Dietze ausführt, »für eine Neigung (sic!) gewisser homosexueller Gruppen und Individuen« stehe, »den okzidentalen Staats- und Machtapparat als Schutzagentur gegen ›fremde‹ Schwulenfeindlichkeit zu begreifen«.

Die von Dietze auffällig oft »Homosexuelle« Genannten folgten einer »hidden agenda« und bliesen zum Angriff, etwa im Hamburger Stadtteil St. Georg: Angeblich gentrifizierten dort Massen weißer, wohlhabender Schwuler das Viertel, verdrängten gezielt muslimische Migranten, provozierten damit, »offen homosexuell« zu sein, und verschafften sich durch Presse und Parteipolitik Unterstützung.

Der Vorwurf an weiße cismännliche Schwule, sie seien privilegiert, fügt sich in einen spezifischen Gebrauch des Begriffs „Privilegien“ ein. Der Kunstwissenschaftler Jörg Scheller dazu:

„Mit der Entgrenzung des Begriffs werden Sonderrechte und Vorrechte wie auch Rechte und Grundrechte als »Privilegien« bezeichnet. Gesetze, symbolisches Kapital, Eigentum, Gesundheit, Liebe – Privilegien sind wie der Igel aus dem Grimm’schen Märchen immer schon da, wenn der Hase eintrifft. Wenn aber immer schon klar ist, was bei einer Diagnose herauskommt, eben »Privilegien«, ist die Diagnose redundant. Wer frei nach Abraham Maslow nur über einen Hammer namens »Privilegienkritik« verfügt, sieht in jedem Problem einen Nagel namens »Privileg«.“ (S.8-9)

Unselige Verwandtschaft  – Pinkwashing

Wie schon angedeutet geht mit dem Begriff „Homonationalismus“ auch eine Ablehnung des Staates Israel einher, der wie die USA als imperialistischer Bösewicht gesehen wird. Ein weiteres gebräuchliches Schlagwort ist in diesem Dunstkreis „Pinkwashing“.

„Pinkwashing“ hat erstmals um 2010 herum eine Art akademischen Anstrich bekommen, als die queerfeministische Theoretikerin Jasbir Puar im britischen „Guardian“ unter der Headline Israel‘s gay propaganda war gegen Israel als Staat wetterte, der nur scheinbar eine liberale Demokratie sei und dafür die Rechte Homosexueller instrumentalisiere. Israel würde mit den Rechten Homosexueller einen „homonationalistischen Propagandakrieg“ führen, der islamische Staaten inklusive der palästinensischen Autonomiegebiete als „barbarisch“ und „rückständig“ herabsetze.

So solle militärisches Vorgehen, wie gegen die sogenannte „Gaza-Flotille“ der Boycott, Desinvestment, Sanctions-Bewegung (BDS), legitimiert werden. Kurz zur Erklärung, was die Gaza-Flotille ist:  2010 enterte die israelische Marine ein Schiff der sogenannten „Gaza-Flotille“, mit der BDS-Aktivist_innen gegen die Situation in den palästinensischen Autonomiegebieten demonstrieren wollte, auf der sich jedoch auch gewaltbereite Hamas-Sympathisant_innen befanden.

Dabei werde geflissentlich ausgeblendet, dass es auch in Israel Homosexuellenfeindlichkeit gebe. Zustimmung erhielt Puar dabei u.a. von der queerfeministischen Ikone Judith Butler. Apologet_innen des „Pinkwashings“ bezichtigen alle LGBTs, die sich positiv zu Israel verhalten, der Komplizenschaft mit israelischem Nationalismus und der „Islamophobie“. Zugleich lassen auch sie das Bild von Israel als „kolonialistischen Apartheid-Staat“ in der Welt zirkulieren.

Israel vorzuwerfen, im Nahen Osten als einzige dort vorhandene liberale Demokratie die Rechte Homosexueller zu schützen, nur um von dem Scheitern des Friedensprozesses mit den Palästinensern abzulenken, ist derart grotesk, dass es den Journalisten Dirk Ludigs in seinem Beitrag in „Beißreflexe“ zu folgendem Vergleich inspirierte: An Kanadas liberaler LGBT-Politik, die auch im Kontrast zu einer katastrophalen Umweltpolitik, welche der indianischen Bevölkerung schadet, dekliniert er, dass „man so ziemlich jedem Staat mit LGBT-Rechten das Verdecken von einem Haufen Dreck am Stecken unterstellen kann“ (Ludigs 2017).

Der Aktionsradius von „Pinkwashing“-Aktivist_innen bleibt jedoch nur auf Israel beschränkt und wird als „legitime Israelkritik“ verbrämt (vgl. ebd.). Der Antisemitismusforscher Samuel Salzborn definiert als wesentliche Bestandteile eines antiisraelischen Antisemitismus gemäß der Arbeitsdefinition der Europäischen Union:

„Das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z .B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen; die Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird; das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen, um Israel oder die Israelis zu beschreiben; Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten; das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen“ (vgl. Salzborn 2013, S. 10).

Neben Puars Artikel im Guardian ist auch ihr Buch von 2017, „The Right to Maim“ zu erwähnen, wo sie ihren Israel-Hass weiterentwickelt: Puar behauptet in diesem Buch, Israel übe seit einigen Jahren »biopolitical control« über die Palästinenser_innen im Gazastreifen aus, indem es bevorzugt nicht mehr töte, sondern »absichtlich verstümmele« (»deliberate maiming«) bzw. »zu Krüppeln schieße« (»shoot to cripple«), und zwar um die Zahl der Toten zu drücken. In einer Rezension bezeichnet der Historiker Vojin Saša Vukadinović Puar als „professionelle Antizionistin“. Ihr Antisemitismus ist vielleicht noch notorischer, als ihre Homophobie.

Diese Denkweisen und Begriffe fördern geradezu Antisemitismus und Homophobie. Den Schaden haben jedoch auch Angehörige aus den Gruppen, für die sich die ach so kritischen Akademiker_innen einsetzen wollen.

Ein paar Beispiele, wie diese Denkweisen zu Entsolidarisierung mit insbesondere migrantischen LGBT führt:

  • 2015 Der Fall des schwulen Deutschlibanesen Nasser el-Ahmad illustrierte jüngst, was passiert, wenn die ausgeblendeten Widersprüche des dogmatischen Blockdenkens offen zutage treten. Der junge Mann hatte Mitte April zu einer Großdemonstration für das universelle Recht auf ­sexuelle Selbstbestimmung durch seinen ehemaligen Wohnbezirk in Berlin-Neukölln aufgerufen. Ziel war es, den Protest gegen die erlittene patriarchal-homophobe Gewalt im Namen der »Ehre« an den Ort des Geschehens zu tragen. El-Ahmads Familie hatte ihn nach seinem Outing mehrfach misshandelt, mit Mord bedroht und schließlich versuchte, ihn in den Libanon zu entführen und ihm dort eine arrangierte Ehe auf­zuzwingen. Da es sich bei el-Ahmad nach Lesart besagter antirassistischen und queerpolitischen Kreise um eine von Gewalt betroffene Person of Color handelt, die zu breiter Solidarisierung aufrief, hätte man eine solche eigentlich erwarten können.

    Was folgte, waren jedoch schrille, in Blogs und auf Social Media gestreute Distanzierungen, die sich zu einer Art moralisch echauffiertem Boykottaufruf hochschraubten. Warum man denn ausgerechnet durch vermeintlich besonders sensible Bezirke wie Neukölln »mit vielen Moscheen, People of Color, Schwarzen Personen und von Klassismus betroffenen Menschen« ziehen müsse, ätzte etwa Hengameh Yaghoobifarah, queerfeministisch-aktivistische Modebloggerin und Online-Redakteurin des Missy Magazins, auf ihrem Blog »Teariffic«, ihre blockdenkengeschulte »Positionierung« ins Web. Sie und andere sahen sich berufen, über eine angeblich »weiß dominierte« Zusammensetzung der Demonstration und deren verdeckt mitagitierende antimuslimische Stigmatisierung des Bezirks als homophob aufzuklären und zu »judgen«.

    Die bemüht herbeikonstruierte Begründung entpuppt sich dem Betrachter als Realsatire in Reinform. Traurig aber wahr: So wird die reine Lehre frei von Widersprüchen gehalten – und eine emanzipierte schwule Person of Color ist diesmal ausgerechnet durch identitätspolitisch vereinnahmende Personen der vermeintlich eigenen Community »gesilencet« worden. Dass el-Ahmads Anliegen einer breiten Solidarisierung auf dem ­Altar des Dogmatismus geopfert wurde, ist nur mehr eine tragische Fußnote der Geschichte. (aus: Götz 2017)
  • 2017 hieß es seitens der beiden Verantwortlichen der im Schwulen* Museum gezeigten Ausstellung „The Lightest Shade of Aflatoon“ über Geschichten queerer Geflüchteter im Interview mit queer.de, dass sie es dem aus dem Iran geflohenen Schriftsteller Murtaza verwehrten, einen islamkritischen Beitrag zu präsentieren. Als Begründung führten sie an: „Als queere Menschen mit muslimischem Background, die schon eine Weile in der westlichen Welt leben, wissen wir, dass dieses Thema einem mehrheitlich weißen Publikum mit Vorsicht präsentiert werden muss, um nicht rassistische, islamophobe Ideologie zu reproduzieren.“ (aus: Amelung 2020)
  • 2019 warf GLAADT e.V. dem Schwulen Museum vor, sich mit einer Infowand zu Strafen für Homosexualität in anderen Ländern „im Fahrwasser rassistischer Diskurse zu bewegen“. Auf der Wand waren unter anderem auch die Todesstrafen auf gleichgeschlechtlichen Sex erwähnt, die in 12 Ländern dafür verhängt wird. Die überwiegende Mehrzahl dieser Staaten liegt im Nahen Osten. Die Aufzählung dieser Länder würde antimuslimischen Rassismus fördern.
  • Die arabische Israelin und Transfrau Talleen Abu Hanna beklagte Ablehnung durch ihre Herkunftsfamilie und beteuerte, glücklich zu sein, im israelischen Tel Aviv leben zu dürfen. Die Genderwissenschaftlerin Walaa Alqaisia warf ihr dann vor, die zionistische Kolonialfantasie vom Geschenk der Eroberung“ zu bestätigen (aus: Sarvari/Weisenstein 2020)
  • 2019 verbot die Abbas-Regierung die queere Organisation al-Qaws – Proteste von Judith Butler, Jasbir Puar, Sara Schulman blieben aus (aus: Pitscheider 2020)

  • Scheller, Jörg: (Un)check your privilege. Wie die Debatte um Privilegien Gerechtigkeit verhindert.  S. Hirzel Verlag: Stuttgart 2022.
  • Vojin Saša Vukadinović: Die professionelle Antizionistin. In: Jungle World Nr. 22, 2018.
  • Ali Tonguç Ertuğrul , Sabri Deniz Martin und Vojin Saša Vukadinović: Gewohnte Kampfbegriffe. In: Jungle World Nr. 5, 2020.
  • Jasbir Puar: Israel’s gay propaganda war. In: The Guardian vom 1. Juli 2010.                                                                                           
  • Vojin Saša Vukadinović (Hg.): Zugzwänge. Flucht und Verlangen. Querverlag: Berlin 2020.
  • Moritz Pitscheider: Der Westen und das Laster. „Homonationalismus“ und Flucht. In: Vojin Saša Vukadinović (Hg.), Zugzwänge. Flucht und Verlangen. Querverlag: Berlin 2020.
  • Lukas Sarvari und Dinah Weisenstein: Homosexualität als „Verbrechen gegen Tradition und Kultur“. In: Vojin Saša Vukadinović (Hg.), Zugzwänge. Flucht und Verlangen. Querverlag: Berlin 2020.
  • Till Randolf Amelung: Flucht vor dem sicheren Tod. Wie die Organisation International Railroad for Queer Refugees hilft. In: Vojin Saša Vukadinović (Hg.), Zugzwänge. Flucht und Verlangen. Querverlag: Berlin 2020.
  • Benedikt Wolf: Queer. And now? Für kritische Geschichtsschreibung der Queer Theory. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019.
  • Patsy l’Amour laLove: Die schwule Gefahr. Von einem queeren Buch gegen schwule Sichtbarkeit. In: Dies. (Hg.), Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag: Berlin 2017.
  • Nina Rabuza: Schwule Patrioten und queere Jihadisten. Jasbir Puars Begriff „Homonationalismus“. In: Patsy l’Amour laLove (Hg.), Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag: Berlin 2017.
  • Till Randolf Amelung: Antisemitismus im Queerformat. Eine Verschwörungstheorie namens „Pinkwashing“. In: Gezeit. Die Zeitung der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften der Uni Wien 01/2017.
  • Heinz-Jürgen Voß, Zülfukar Çetin: Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven. Psychosozial-Verlag: Gießen 2016.
  • Tove Soiland: Sexuelle Differenz. Feministisch-psychoanalytische Perspektiven auf die Gegenwart. Unrast: Münster 2022.
  • Hans Meyer: Außenseiter. Suhrkamp Verlag: Frankfurt/Main 2016 (8. Auflage).
  • Melanie Götz: Critical Sadness. In: Patsy l’Amour laLove (Hg.), Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag: Berlin 2017.
  • Dirk Ludigs: Beliebigkeit mit Sektenanschluss. Anti-Pinkwashing, Antisemitismus oder warum Hannah Ahrendt keine Queer-Aktivistin hätte werden können. In: Patsy l’Amour laLove (Hg.), Beissreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten. Querverlag: Berlin 2017.